2018 09 28 arzt und algorithmusAuf dem Podium: (von links) Prof. Dr. Markus Nöthen, Jan Niklas Hansen, Katrin Reuter, Prof. Dr. Mariacarla Gadebusch Bondio, Prof. Dr. Dirk Böhmann und Prof. Dr. Nicolas Wernert. (c) Foto: Barbara Frommann/Uni Bonn

Über Chancen, Herausforderungen und Risiken dieser Entwicklung diskutierte der Dekan der Medizinischen Fakultät, Prof. Dr. Nicolas Wernert, nach seinem Impulsvortrag mit vier weiteren Bonner Experten. Zum Podium gehörten der Justitiar des Deutschen Hochschulverbandes und Medizinrechtler Prof. Dr. Dirk Böhmann, die Philosophin und Medizinhistorikerin Prof. Dr. Mariacarla Gadebusch Bondio, Katrin Reuter – Gründerin des Startup-Untenehmens „Trackle“, das einen Sensor zur Schwangerschaftsprognose entwickelt hat – und Prof. Dr. Markus Nöthen, Direktor des Instituts für Humangenetik des Universitätsklinikums Bonn. Moderiert wurde die Runde von Jan Niklas Hansen, Doktorand am Institut für Angeborene Immunität und Forscher des Exzellenzclusters ImmunoSensation. Wobei alle Teilnehmer die Janusköpfigkeit von „Big Data“ kritisch reflektierten, aber auch den Blick ihrer Zuhörer auf das Potenzial der Digitalisierung richteten: nicht nur national in den ärztlich schlecht versorgten Regionen Deutschlands, sondern auch global – als Instrument der Entwicklungshilfe.

Die Furcht vor Missbrauch medizinischer Daten und vor Unternehmen, die sich von möglicherweise schwer erkrankenden Mitarbeitern lieber vorsorglich trennen, kam dabei ebenso zur Sprache wie das bestehende Problem von Doppeldiagnosen und Fehlmedikationen bei jährlich acht Millionen Patienten bundesweit. Die digital gespeicherten und per Tablet abrufbaren Patientendaten – so auch im neuen Neurozentrum der Bonner Universitätsklinik – sind ebenso real wie die mechanisch gesteuerte Assistenz durch Roboterarme im Operationssaal. Bei minimal-invasiven Eingriffen, die immer häufiger die für den Patienten äußerst belastende Thorakotomie (Öffnen des Brustkorbs) ersetzen, kann solch ein Arm kleinste Schnitte mit höchster Präzision ausführen, ohne müde zu werden. Mit Stammzellen beschichtete Organe aus dem 3D-Drucker oder computergesteuerte Exoskelette in der Orthopädie könnten bald schon Patienten helfen, für die es bislang kaum wirksame Therapien gibt.

Außerhalb des OP gilt Telemedizin als Modell mit Zukunft - bei allen Vorbehalten gegen eine Computerstimme statt des Gesprächs vis-à-vis. „Wir sind in Deutschland, was die Digitalisierung angeht, noch immer sehr konservativ“, beklagte Nöthen. „Es wird zunächst einmal alles problematisiert.“ Doch realistisch betrachtet überwiegen aus seiner Sicht die Vorteile dieser technischen Entwicklung, vor allem in der Medizin. Dies setze allerdings den im Umgang mit digitalen Medien aufgeschlossenen und erfahrenen Patienten voraus; auch im hohen Alter. „Ebenso muss die Digitalisierung ins Curriculum für Medizinstudenten aufgenommen werden“, forderte Böhmann. „Und wir brauchen klare und rechtssichere Regeln im Umgang mit diesen Daten.“ Obwohl oder gerade weil es bei der Verarbeitung der Daten nicht allein um eigene Interessen der Patienten gehe. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele da sehr offen, vertrauensvoll und auch mit der Hoffnung herangehen, dass die Forschung auch anderen zugute komme“, berichtete Reuter aus ihrer Arbeit am eigenen Medizinprodukt.

Welches Potenzial und welche Perspektiven sich aus einem verantwortungsvollen Umgang mit Big Data ergeben, skizzierte Hansen: So ermöglicht die Sequenzierung des Genoms zielgerichtete Therapien von Volkskrankheiten – von der Atherosklerose über Diabetes bis zur Neurodegeneration und Krebserkrankungen. Bis zum chirurgischen Eingriff, der eines Tages allein von Robotern ausgeführt werden wird, ist der Weg derzeit noch unübersehbar weit. „Wir haben also noch Zeit, über die ethischen Fragen zu diskutieren, die die Digitalisierung der Medizin zwangsläufig mit sich bringt“, betonte Gadebusch Bondio. Dass eine Maschine solch persönliche und mitunter auch schwerwiegende Entscheidungen treffe, wie Patienten und Ärzte es manchmal tun müssen, erscheint dem Dekan jedenfalls sehr unwahrscheinlich. „Ich glaube nicht, dass dies jemals möglich sein wird. Ebenso wenig wie ein Rückschritt in unserer kulturellen Evolution“, zog Wernert abschließend Bilanz. „Die Antwort heißt nicht 'Arzt oder Algorithmus', sondern 'Arzt und Algorithmus'.“